Seit Russlands offenem Angriff auf die Ukraine leiden die Menschen zwischen Lemberg und Charkiv unter täglichen Luftangriffen und bangen um ihre Angehörigen an der Front. Millionen mussten ihre Heimat verlassen. In Russland scheint der Krieg auf breite Zustimmung zu stoßen.
Welche Auswirkungen der Krieg und die Repressionen des Kreml auf jene Menschen in Russland haben, die sich nicht von den Verbrechen ihrer Armee abschotten oder gar daran beteiligen, hat die russische Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa in einem Tagebuch niedergeschrieben. Als sich die Anzeichen für eine Verhaftung verdichten, flieht sie nach Deutschland. Ihre bewegenden Notizen konnten danach in deutscher Übersetzung erscheinen.
Mit Natalja Kljutscharjowa spricht Anna-Nicole Heinrich, Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Lesung der deutschen Übersetzung: Nina West
Das Gespräch fand in deutscher und russischer Sprache mit Simultanverdolmetschung statt.
Bericht: Sebastian Lambertz
Während die Menschen in der Ukraine tagtäglich unter russischen Luftangriffen leiden und um ihre Angehörigen bangen, die an der Front gegen den russischen Angriff kämpfen, scheint eben dieser Krieg in Russland auf breite Zustimmung zu stoßen. Nichtsdestotrotz gibt es dort zahlreiche Menschen, die sich nicht von den Verbrechern der Armee abschotten oder sich daran beteiligen. Für sie haben der Krieg und die Repressionen des Kremls durchaus Auswirkungen, die bei uns allerdings zunehmend aus dem Blick geraten. In ihrem „Tagebuch vom Ende der Welt“ wirft die russische Autorin Natalja Kljutscharjowa einen Blick auf diejenigen, die das russische Regime und den Krieg nicht unterstützen, Russland aber auch nicht verlassen haben. Im Gespräch mit Anna-Nicole Heinrich, Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, hat Kljutscharjowa Einblicke in ihr Erleben des ersten Kriegsjahres und die Entstehung ihres Buch gegeben.
EIN GESPRÄCH ÜBER ANGST UND SCHULD
Zentrale Themen des Abends in der Kapelle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche waren Schuld und Angst. Dies wurde schon in der ersten Passage des Tagebuchs deutlich, die die Schauspielerin Nina WEST in deutscher Übersetzung darbot. Darin beschreibt Kljutschwarjowa, wie sie am 24. Februar von der Deutschlehrerin ihre Kinder vom russischen Angriff erfuhr, ihr Gehirn sich aber zunächst weigerte, die Tatsache zu akzeptieren. Sie sagt sich immer wieder, dass sie nicht Schuld an den Ereignissen sei, dass sie nicht Schuld sei, dass sie in Russland geboren ist und dass sie nicht Schuld sei, dass sie ständig in Schuldgefühle verfalle. Aus diesem Gefühl von Schuld und Angst heraus, habe sie begonnen, schriftlich festzuhalten, was mit ihr am 24. Februar und danach geschah, beschrieb Klutscharjowa im Anschluss an die Lesung. Ursprünglich habe es sich tatsächlich um ein Tagebuch gehandelt, das nicht als Buch gedacht war. Die Niederschrift habe ihr Halt gegeben und geholfen, nicht verrückt zu werden.
Erschienen ist das Buch zunächst auf Deutsch, nachdem die Autorin Russland schließlich doch verlassen hatte und nach Landshut ging. In der Gedächtnis-Kirche schließe sich in gewisser Weise ein Kreis, so Kljutscharjowa. Als sie 2010 in Berlin war, habe sie erstmals die Stalingradmadonna von Kurt Reuber in der Kirche gesehen und beschlossen, irgendwann etwas über Reuber zu schreiben. Nachdem nach Kriegsbeginn in Russland ihr Theaterstück über Reuber aufgeführt worden war, wurde ihr vorgeworfen, ein Antikriegsstück geschrieben zu haben. Sie verließ daraufhin ihre Heimat.
Heinrich kam daraufhin auf die Situation zu sprechen, dass sich Kljutscharjowa nun in Deutschland befinde, der Fokus hier aber natürlich auf einer anderen Gruppe liegt: den Ukrainer*innen, die vor dem russischen Angriff geflohen sind. Kljutscharjowa bestätigte, dass die Begegnungen mit diesen zu den schwierigsten Situation im Alltag gehören. Es falle ihr schwer, zu sagen, dass sie aus Russland kommt. Ihre Tochter würde sogar behaupten, sie komme aus der Ukraine oder Kasachstan, um das Gefühl der Schuld nicht auf sich nehmen zu müssen. Für sie sei Russland eine Art davonschwimmende Insel, von der sie sich immer weiter entferne, so die Autorin.
DIE SCHWINDENDE KRAFT PERSÖNLICHER GESCHICHTEN
Auf die Frage von Heinrich, ob sie innerlich Verantwortung für Dinge übernehmen würde, für die sie eigentlich gar nicht verantwortlich sei, berichtete Kljutscharjowa von inneren Zwiegesprächen, die sie führe. Eine Stimme sage ihr immer wieder, dass sie eben doch Schuld sei. Schwer tue sie sich zudem damit, dass viele Menschen in Russland an eine Realität glauben würden, die mit der eigentlichen Realität wenig zu tun habe. Es werde immer schwerer, diese Menschen vom Gegenteil zu überzeugen, selbst bei ihr nahestehenden Personen. Dies gelte auch für Menschen in Deutschland. Es sei für sie ein Schock gewesen, zu sehen, wie viele sich auch hier für Putin und den Krieg aussprechen würden.
Eine Episode sei ihr dabei besonders in Erinnerung geblieben: Als sie mit anderen Personen aus Russland und der Ukraine für Dokumente anstand, habe eine Ukrainerin von ihren Erfahrungen aus dem Krieg berichtet. Sie habe darüber gesprochen, dass sie bei Luftangriffen in den Keller geflüchtet und beim Anstehen um Brot beschossen worden sei. Eine andere Frau habe dies als Propaganda bezeichnet und behauptet, ukrainische Faschisten hätten die Frau beschossen. Somit habe eine Person, die nur das Fernsehen als Quelle gehabt habe, einer anderen Person ihre tatsächlichen Erlebnisse abgesprochen. Heinrich tat angesichts dieser Schilderungen ihr Erschrecken darüber kund, dass offenbar aktuell nicht einmal mehr persönliche Geschichten und Schicksale die Menschen zum Umdenken bringen können.
Klujtscharjowa betonte, dennoch weiter schreiben zu wollen. Es sei ihr wichtig, zu erzählen, was Geflüchtete aus der Ukraine berichten, ihre Geschichten aufschreiben und so einen Beitrag zu leisten. Hier hakte Heinrich ein und kam auf die zuvor von Kljutscharjowa geschilderte Schwierigkeit zu sprechen, die diese im Umgang mit Ukrainer*innen habe. Hierbei handele es sich, so die Autorin, vor allem um Scham angesichts ihrer russischen Herkunft. Dies erschwere die Kontaktaufnahme zu Ukrainer*innen, auch wenn diese oftmals positiv reagieren würden. In den Gesprächen habe sie festgestellt, dass die Geflüchteten vielfach einen Wunsch nach Aufmerksamkeit und einem offenen Ohr hätten.
„DER DÄMON IST WIEDER FREI“
In einer zweiten von Nina West vorgetragenen Textpassage beschreibt Kljutscharjowa ihre Teilnahme an einem stillen Protest gegen den Krieg, bei dem die Teilnehmer*innen von Polizei und OMON eingekesselt worden seien. Zudem nimmt sie Bezug auf die russischen Soldaten, die Kriegsverbrechen in der Ukraine – unter anderem in Butscha – begangen haben und bei ihrer Rückkehr nach Russland Auszeichnungen erhielten. „Der Dämon ist wieder frei“, schreibt Kljutscharjowa. Angst und Scham sind auch hier die bestimmenden Themen.
Anschließend sprachen Heinrich und Kljutscharjowa über literarische Form des Buches. Die Autorin berichtete, dass sie in ihrem bisherigen Schaffen bereits alle literarischen Genres ausprobiert habe. Für ihr Buch sei es ihr wichtig gewesen, eben kein trockenes Tagebuch zu verfassen, weswegen sie es vor allem auf Lesbarkeit hin überarbeitet habe. Das Buch solle nicht so viel Schweres ans Licht bringen. Eine Anmerkung Heinrichs, dass Widerstand im Buch primär weiblich, der Krieg aber vor allem männlich erscheine, beantwortete Kljutscharjowa mit dem Verweis, dass sie zumeist mit den Frauen ins Gespräch komme. Daher enthalte das Buch mehr weibliche Stimmen.
Zum Abschluss sprachen Heinrich und Kljutscharjowa über Aktionen, die politische Gefangene in der Öffentlichkeit sichtbar machen können. Kljutscharjowa berichtete von einem Künstler aus Landshut, der Portraits ukrainischer Geflüchteter und russischer politischer Gefangene ausgestellt hat, Heinrich von einer Aktion auf der letzten EKD-Synode, bei der ebenfalls Portraits russischen politischer Gefangener entstanden sind. Beiden sahen in diesen Aktionen Möglichkeiten im Umgang mit einer schwindenden Hoffnung auf bessere Zeiten und ein freies, demokratisches Russland und äußerten die Hoffnung, dass solche Aktionen auch den Gefangenen selbst Kraft und etwas gibt, an das sie glauben können.
Datum:
12.06.2024, 19:00 Uhr
Ort:
Kapelle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
Breitscheidplatz
10789 Berlin
Sprache(n):
Deutsch und Russisch, simultan gedolmetscht
Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde