Stellungnahme der DGO zur geplanten Novellierung des WissZeitVG

Am 12. Juli 2023 hat die DGO ein Statement zur geplanten Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes veröffentlicht und auf die negativen Folgen hingewiesen, die das Gesetz in seiner aktuellen Form für die Area Studies und damit die so wichtige Osteuropaexpertise hat. In einem Brief hat sich unser Präsident Ruprecht Polenz mit der Bitte an die zuständige Ministerin Bettina Stark-Watzinger gewandt, dies im weiteren Prozess der Novellerierung des Gesetzes zu bedenken.

Das Statement im Wortlaut:

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) zur geplanten Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes im Hinblick auf die Area Studies
(BMBF: Reform des WissZeitVG, 17.03.2023; redigierter Referentenentwurf vom 06.06.2023)

Juli 2023

Die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e. V. (DGO) begrüßt die Initiative des Ministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft zu verbessern. Die geplante Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) geht aber – auch im Referentenentwurf vom 6. Juni 2023 – an den Logiken wissenschaftlicher Arbeitszusammenhänge und den Bedürfnissen von Wissenschaftler*innen in der beruflichen Etablierungsphase vorbei. Da für die sogenannten Area Studies darüber hinaus spezifische Forschungsbedingungen gelten, verbindet die DGO ihre Kritik an den Novellierungsvorschlägen mit Hinweisen zur speziellen Situation in den osteuropabezogenen Wissenschaften.

Für Postdocs ist eine Höchstbefristungsdauer von vier Jahren geplant. Die mögliche Verlängerung um zwei weitere Jahre ist an eine Anschlusszusage für ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis gebunden. Ohne tiefergehende Änderungen des gesamten Systems werden Universitäten und Hochschulen weder bereit noch in der Lage sein, eine solche Anschlusszusage auszusprechen. Somit erhöht der Referentenentwurf de facto den ohnehin schon hohen Druck im Postdoc-Bereich drastisch. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ohnehin eine gesetzliche Grundlage für eine Ausnahmeregelung vom geltenden Arbeitsrecht darstellt, da der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst vorsieht, dass Arbeitsverhältnisse grundsätzlich unbefristet geschlossen werden.

Hinzu kommen besondere Anforderungen, die sich für Wissenschaftler*innen aus den Area Studies bei der beruflichen Etablierung stellen. Die Forschung zu einer spezifischen Region ist äußerst voraussetzungsvoll und erfordert häufig zusätzlichen Arbeitsaufwand (Erwerb von Sprach- und Landeskenntnissen, längere Auslandsaufenthalte zur Feldforschung, verbunden mit der zunehmend schwierigen Beantragung von Forschungsvisa etc.). Die Forschungsregion Osteuropa ist zudem geprägt von autoritären Regimen, Regionalkonflikten und Krieg. Während dies die gesellschaftspolitische Relevanz der Forschung erhöht, sind die Forschungsbedingungen wesentlich schwieriger als die wissenschaftliche Beschäftigung mit westlichen Gesellschaften und Systemen.

In den Geisteswissenschaften wird in Deutschland zudem erwartet, sich mit dem Postdoc-Vorhaben ein zweites Forschungsfeld zu erschließen, das sich deutlich von der Promotion unterscheidet. In der Osteuropa-Forschung bedeutet dies meist nicht nur den Wechsel der Epoche, sondern auch des Untersuchungsraums. Nicht selten ist hierfür das Erlernen einer weiteren Fremdsprache unumgänglich. Um ein Fach möglichst breit vertreten zu können, gilt diese Anforderung bei der Stellenbesetzung sowohl für Habilitierte als auch für Wissenschaftler*innen mit habilitationsäquivalenten Forschungsprojekten. Schon bei einer Vertragslaufzeit von sechs Jahren sind die Anforderungen an Postdocs sehr hoch. Mit dem neuen 4+2-Modell ist die Erschließung neuer Forschungsschwerpunkte in den Area Studies noch weniger leist- und vertretbar.

In den Sozialwissenschaften stehen Postdocs vor dem Zielkonflikt, sich entweder tiefergehend mit dem Kontext einer Region zu beschäftigen oder sich weiter methodisch in der „Mutterdisziplin“ zu qualifizieren. In einem stark quantifizierten System, in dem es vor allem um maximalen Output in kürzester Zeit geht, werden so Anreize gesetzt, sich von der Region abzuwenden und sich auf Systeme oder Forschungsgebiete mit einem einfachen Feldzugang zu konzentrieren. Kürzere Befristungszeiten würden diesen Trend noch unterstützen – mit katastrophalen Folgen für die Regionalexpertise.

Darüber hinaus ist die geplante Höchstbefristungsdauer von vier Jahren nicht mit den allgemeinen Anforderungen an die Qualifizierung für Professuren oder andere Senior-Positionen in der Wissenschaft vereinbar. Allein die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse, eine Grundvoraussetzung für die weitere Qualifizierung, ist sehr langwierig. Dies gilt sowohl für Habilitationsschriften als auch für das „zweite Buch“ oder Artikel in Zeitschriften mit einem Peer-Review-Verfahren. Neben der eigenen Forschungstätigkeit müssen Postdocs sich u.a. in der Lehre qualifizieren und sich an der akademischen Selbstverwaltung beteiligen. Zudem ist die erfolgreiche Einwerbung von Mitteln zur Forschungsförderung inzwischen ein wichtiges Kriterium für die Besetzung von Professuren.

Ohnehin sind Postdocs im deutschen Wissenschaftssystem nach internationalen Standards im Nachteil. Juniorprofessuren ohne die Aussicht auf eine Entfristung (Tenure) sind mittlerweile europaweit eher die Ausnahme. Die gängige Praxis, hochqualifizierte Forschungskräfte zu entlassen, macht das deutsche System international nicht konkurrenzfähig. Auch für die angestrebte Internationalisierung des Wissenschaftsstandorts Deutschland ist die geplante Verkürzung der Befristungsdauer von Verträgen daher hochproblematisch – zumal Wissenschaftler*innen aus dem Ausland einige Zeit benötigen, um sich in das deutsche Wissenschaftssystem einzuarbeiten.

Die Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte zeigen, dass die Reproduktionsfähigkeit der osteuropabezogenen Wissenschaften im deutschen Wissenschaftssystem nicht mehr gewährleistet ist. Die Entscheidung von Wissenschaftler*innen zwischen dem Verbleib in den Area Studies oder der Fokussierung auf eine Einzeldisziplin fällt in die Postdoc-Phase. Die Erfahrung zeigt, dass sich gerade im Bereich der Sozialwissenschaften schon jetzt viele junge Wissenschaftler*innen aus berufsstrategischen Gründen gegen die Regionalexpertise entscheiden.[1] In Disziplinen wie den Politik-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften oder der Soziologie erweist sich der regionale Fokus sogar als Nachteil bei der Bewerbung auf Dauerstellen. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, so wird Deutschland als Wissenschaftsstandort mit einer langen Tradition in den Osteuropawissenschaften perspektivisch nicht mehr in der Lage sein, Wissenschaftler*innen in den osteuropabezogenen Disziplinen auszubilden. Gravierende Engpässe zeigen sich schon jetzt in den oben genannten Disziplinen.

Der Erhalt der Reproduktionsfähigkeit dieser Disziplinen ist auch aus einem weiteren Grund sehr wichtig. Valide wissenschaftliche Expertise über das östliche Europa erfordern den engen Austausch mit Wissenschaftler*innen aus der Region – sowohl mit Personen, die vor Ort kritische Wissenschaft betreiben, als auch mit denjenigen Wissenschaftler*innen, die inzwischen im Exil arbeiten. Der Aufbau und die Pflege derartiger fachlicher Netzwerke sind sehr arbeitsaufwändig, aber auch über die Wissenschaft hinaus äußerst gewinnbringend für die internationalen Beziehungen Deutschlands zu den Ländern im östlichen Europa.

Zukunftsorientierte Wissenschaftssysteme stehen immer in einem Spannungsverhältnis von notwendiger institutioneller Dynamik und individueller Planbarkeit von Karrierewegen. Es ist daher nicht zielführend, bei der Reform des Wissenschaftssystems isoliert bei der Höchstbefristungsdauer von Stellen anzusetzen, ohne das Wissenschaftssystem als Ganzes im Blick zu haben. Erforderlich ist auch eine Diskussion über neue entfristete Stellenprofile jenseits der Professuren, Anforderungen an Personalstellen und Kriterien für ihre Überprüfung sowie über die Frage einer Grundfinanzierung von Lehre und Forschung. Dazu hat sich die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag bekannt und ein Bund-Länder-Programm in Aussicht gestellt, dass „1) alternative Karrieren außerhalb der Professur, 2) Diversity-Management, 3) moderne Governance-, Personal- und Organisationsstrukturen fördern“[2] soll.

Mit der Veröffentlichung des Referentenentwurfs vom 6. Juni hat das BMBF unterstrichen, dass es seiner Verantwortung nicht gerecht wird, eine solche Diskussion anzustoßen. Die Qualität und Attraktivität von Deutschland als Wissenschaftsstandort kann nur gewährleistet werden, wenn Institutionen weiterhin eine ausreichende Flexibilität in ihrer Personalpolitik haben und Wissenschaftler*innen gleichzeitig eine größere Planungssicherheit für ihre berufliche und private Zukunft erhalten. Diesen Spagat sollte das novellierte Wissenschaftszeitvertragsgesetz adressieren und entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen setzen.

Das neue Wissenschaftszeitvertragsgesetz sollte dabei auch den interdisziplinären, regionalen und überregionalen wissenschaftlichen Austausch im Blick haben und umfassend ermöglichen. Auch kleinere Maßnahmen, wie die einjährige Vertragsverlängerung zum Erlernen einer forschungsrelevanten Fremdsprache oder bei besonders aufwändiger Feldforschung, sind dabei hilfreich. Insgesamt sind aber strukturelle Maßnahmen erforderlich: Gerade die regionalwissenschaftliche Spezialisierung kann nur durch eine ausreichende Anzahl von Stellen mit der Perspektive auf eine Entfristung gesichert werden. Die Gesetzesnovelle erhebt den Anspruch, den Tenure-Track-Gedanken in das Wissenschaftszeitvertragsgesetz zu integrieren. In der Praxis könnte dies aber zu einer deutlichen Verschärfung der Arbeitsbedingungen führen, wenn ein solcher Vorstoß nicht von Vorschlägen für neue Stellenprofile oder Personalstrukturen begleitet wird. Hierzu werden Länder und Hochschulen aber nur mit einem neuen System der Grundfinanzierung im Stande sein. Der vorliegende Entwurf des BMBF stellt demnach keine Reform, sondern eine Fortschreibung der prekären Arbeitssituation junger Wissenschaftler*innen dar, der das System der Befristung noch dysfunktionaler macht.


[1] Cindy Wittke: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – Ein »Virolog:innen-Moment« für die deutsche Osteuropaforschung? In: Russland-Analysen Nr. 438, S. 2-4.

[2] Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90 / Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP), S. 19.

https://www.dgo-online.org/neuigkeiten/aktuelles/stellungnahme-der-dgo-zur-geplanten-novellierung-des-wisszeitvg-im-hinblick-auf-die-area-studies/